Early Historians – on the Origins of Jewish Holocaust Research

Early Historians – on the Origins of Jewish Holocaust Research

Organisatoren
Simon-Dubnow-Institut, Leipzig
Ort
Leipzig
Land
Deutschland
Vom - Bis
18.06.2010 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Karoline Georg, Berlin

Der eintägige Workshop “Early Historians – on the Origins of Jewish Holocaust Research” am Simon-Dubnow-Institut in Leipzig war von einem kleinen Fachpublikum besucht und fand fast ausschließlich in englischer Sprache statt. Er widmete sich einem Thema, das vor allem in der deutschen Geschichtswissenschaft bisher wenig Beachtung gefunden hat – der frühen Erforschung des Holocaust durch jüdische Forscher. Dieser kleine und spezialisierte Rahmen bot im Gegensatz zu anderen Tagungen die Möglichkeit, das Thema tiefgründig zu behandeln und Detailfragen zu diskutieren.

In seinen Begrüßungsworten wies DAN DINER (Leipzig / Jerusalem) zunächst auf das Spannungsfeld hin, in dem sich das Simon-Dubnow-Institut als Institut zur Erforschung der jüdischen Geschichte in Europa bewegt, wenn es sich mit dem Holocaust beschäftigt. Grundsätzlich nannte er die zwei Formen der Aufarbeitung der Shoah, die auch während des Workshops das Hauptspannungsfeld bildeten: historiography und memory. Die Transformation dieser zwei Perspektiven sehe er als einen Forschungsgegenstand, dem sich auch das Dubnow-Institut widmen sollte. Die Rollen der Personen, die im Zentrum dieses Workshops stehen, benannte er als Opfer, Zeugen, Ankläger und Historiker.

In seinem Einleitungsvortrag gab KLAUS KEMPTER (Leipzig) einen Überblick über die Rezeption der frühen Holocaust-Forschung durch Überlebende und jüdische Exilanten. So werde selbst Hannah Arendt - seit 1944 in vielen Aufsätzen mit der Wirkung des Holocaust beschäftigt - nicht als frühe Historikerin des Holocaust, sondern als frühe Theoretikerin des Totalitarismus missverstanden. Er wies außerdem darauf hin, dass der heutige Forschungsstand zum Thema in großem Maße den auf dem Workshop anwesenden Wissenschaftler/innen aus Deutschland, Österreich, Israel, Polen und den USA zu verdanken sei.

Das erste Panel des Workshops unter dem Titel „From Testimony to History“ fand unter der Moderation von NICOLAS BERG (Leipzig) statt. In seiner Dissertation „Der Holocaust und die westdeutschen Historiker“1 hatte er sich unter anderem dem in der deutschen Holocaustforschung ignorierten Joseph Wulf (1912-1974) zugewendet und damit einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der frühen Geschichtswissenschaft zum Holocaust geleistet.

Als Erste stellte KATRIN STOLL (Bielefeld / Warschau) das Leben und Wirken des polnisch-jüdischen Forschers Szymon Datner (1902-1989) vor. Während sie im ersten Teil des Vortrages seine Biografie und sein Wirken verschränkte, ging sie im zweiten Teil auf seine Rolle als Zeuge im Białystok-Verfahren ein. Sie zeigte, wie Datner die am Anfang des Workshops von Diner benannten unterschiedlichen Rollen der frühen Forscher in sich vereinte. Besonders deutlich wurde das in ihrer detaillierten Darstellung der Diskussionen um die erste Veröffentlichung Datners über das Ghetto Białystok. Viel Aufsehen habe es vor allem um Datners sehr emotional verfassten Epilog gegeben, in dem er seine Überzeugung äußerte, Deutsche seien keine Menschen. Der dritte Teil des Vortrages „Resisting Mass Murder“ behandelte Datners Widerstand gegen die Deutschen.

Im darauffolgenden Beitrag stellte FRANZ HOCHENEDER (Linz) das literarische Schaffen Hans Günther Adlers (1910-1988) vor. Hocheneder – selbst kein Historiker, sondern Germanist und Anglist – referierte über Adlers Biografie in Verbindung mit seiner literarischen Verarbeitung des Erlebten. Leider wurde Adlers Hadern mit seiner eigenen Identität als jüdischer Überlebender, Forscher und Literat nur am Rande behandelt. Im Vordergrund der Diskussion dieses Panels standen die Fragen nach der Mehrfachidentität von Adler und Datner: als Überlebende, Zeugen und Forscher. So wies etwa RONI STAUBER (Tel Aviv) darauf hin, dass es einen Briefwechsel zwischen Adler und dem polnisch-jüdischen Historiker Philip Friedman gegeben habe, in dem genau die Frage der Identität diskutiert worden sei. Auch Datner betreffend wurde diese Frage tiefgehender erörtert. Stoll ergänzte, dass Datner als Zeuge vor Gericht immer nachgefragt habe, ob er als Augenzeuge oder Historiker befragt werde.

Das zweite Panel widmete sich dem Thema „From Historical Commissions into Written History“. Hier präsentierten NATALIA ALEKSIUN (New York) und Roni Stauber sehr überzeugende Vorträge zu jüdischen Forschern, die im Nachkriegspolen erste Jüdische Historische Kommissionen gegründet hatten und ihr Wirken später in den USA und in Israel fortsetzten. Beide Beiträge waren von analytischer Tiefe geprägt und beschränkten sich im Deskriptiven auf ein Minimum. Aleksiun stellte in ihrem Vortrag das Schaffen und Wirken von Philip Friedman (1901-1960) vor. Da Friedman unter den frühen Forschern der einzige studierte Historiker gewesen ist, wichen seine Herangehensweise, Ziele und methodischen Ansätze von denen anderer hier vorgestellter Forscher ab. Er gehöre zu denen, die durch die Geschichtswissenschaft in der Zeit zwischen den Weltkriegen geprägt worden seien. Außerdem habe er die Shoah bereits kurz nach dem Krieg seinem Verständnis nach als Teil der jüdischen Geschichte eingebettet. Friedman habe selbst nie als Überlebender, sondern immer als Historiker gesprochen. Nach seiner Befreiung habe er augenblicklich angefangen, Zeugnisse und Dokumente über das Geschehene zu sammeln. In der Diskussion ergänzte die Referentin später, dass Friedman, obwohl er alle drängte, Zeugnis abzulegen, das selbst nie getan habe.

In Roni Staubers Beitrag über die Konflikte um Yad Vashem als Forschungsinstitut in den 1950er-Jahren verschränkten sich viele der in dem Workshop diskutierten Themen. Protagonisten des damaligen Disputes waren auf der einen Seite eine Gruppe von Forschern in Yad Vashem, selbst Überlebende, auf der anderen Seite die Leitung des Forschungsinstituts, in der nur ein Überlebender vertreten war. Am Anfang des Disputes stand die Frage, ob man selbst das Grauen erlebt haben musste, um darüber zu forschen oder ob es den ohnehin nichtakademischen Forschern nicht an Objektivität mangele. Dann wurde auch um die Bedeutung der Shoah gestritten. Die Leitung Yad Vashems habe die Vernichtung der Juden als Konsequenz eines Diasporalebens gesehen, die sich in eine lange Geschichte der Verfolgung einreihte, während die überlebenden Forscher den essentiellen Unterschied der Shoah zu den Verfolgungen in anderen Zeiten betonen wollten. Damals habe sich der grundlegenden Ansatz Yad Vashems entwickelt – auch in Abgrenzung zur deutschen Geschichtswissenschaft -, dass eine historische Forschung und Darstellung der Shoah „judeocentric“ und nicht „nazicentric“ (Stauber) zu sein habe. Dies spiegelt sich bis heute in der israelischen Historiographie wider.

In der anschließenden Diskussion stand unter anderem die Frage zur Debatte, wie die schriftliche Korrespondenz zwischen den Forschern zu bewerten sei. Der weltweite schriftliche Austausch zwischen den jüdischen Forschern ist eine essentielle Quelle in der Erforschung der frühen Historiographie, besonders in Hinblick auf die Identitätsfragen der Forscher. Sowohl Stauber als auch Aleksiun bestätigten zudem die geäußerte Vermutung, dass es in diesen Briefen weniger um wissenschaftliche Fragen als vielmehr um ein Netzwerk und das Gefühl, nicht allein zu sein, gegangen sei.

Das dritte Panel „Institutionalizing Historiography“ umfasste die Vorträge von LAURA JOCKUSCH (Beer Sheva) zu den Anfängen der Holocaust-Forschung in Deutschland und Frankreich und von KATHARINA STENGEL (Frankfurt am Main) zu Hermann Langbein. Laura Jockusch präsentierte eine sehr überzeugende Vergleichsstudie, in der vor allem die grundsätzlichen Unterschiede der Forschungskonzepte in den beiden Ländern deutlich wurden. In Frankreich wurde bereits 1944 das Centre de Documentation Juive Contemporaine (CDJC) gegründet, und in Deutschland hatten die Historischen Kommissionen in den Camps für jüdische Displaced Persons (DPs) 1945 begonnen, Materialien zu sammeln und auszuwerten. Während in Frankreich die Erforschung bezweckt habe, Jüdinnen und Juden erneut zu gleichberechtigten Mitgliedern der französischen Gesellschaft zu machen sowie die rechtlichen Ansprüche auf Entschädigung vorzubereiten, hätten die Historischen Kommissionen in Deutschland andere Ziele verfolgt. Ihnen sei es vielmehr darum gegangen, Beweise für die von den Deutschen verübten Gräueltaten zu sammeln und damit den Kampf für jüdische Rechte und nationale Unabhängigkeit in Palästina zu unterstützen. Dieser zentrale Unterschied resultiere daraus, dass die französischen Juden eine neue Zukunft in Frankreich aufbauen wollten, während sich die Überlebenden in den DP-Camps nur auf einer Zwischenstation der Flucht aus Osteuropa befanden. Dabei hätten sich die Historischen Kommissionen mit ihren Veröffentlichungen in jiddischer Sprache an ein internationales jüdisches Publikum gewandt, während das CDJC sich in seinen französischen Publikationen eher an ein nichtjüdisches Publikum richtete. Während in Deutschland die Arbeit der Kommissionen mit der Auswanderung der DPs ihre Arbeit einstellte und die Materialien 1948 nach Israel gebracht wurden, avancierte das CDJC zu einem renommierten nationalen Forschungsinstitut.

Katharina Stengel behandelte in ihrem Vortrag den Bereich der frühen Aufarbeitung der Geschichte der Lager am Beispiel des Internationalen Auschwitz-Komitees (IAK) und Hermann Langbeins. Dieser ist unter den in diesem Workshop vorgestellten Forschern ein „Außenseiter“, da er sich weder als Historiker verstand, noch als Jude verfolgt worden ist. Hermann Langbein war Kommunist und als politischer Häftling in Auschwitz – er konnte damals mit Erfolg verbergen, dass er nach NS-Definition als jüdischer „Mischling I. Grades“ gegolten hätte. So beschreibt Stengel auch, dass es sich bei der Arbeit des IAK um keine frühe Holocaustforschung gehandelt habe, sondern um die Festschreibung einer antifaschistischen Lagergeschichte. Zwar habe es viele Parallelen zur Arbeit anderer Lagerkomitees gegeben, Langbein aber habe die Grenzen des typischen antifaschistischen Lagerdiskurses überschritten und eine persönliche und politische Veränderung durchlaufen, die dazu führte, dass er die Vernichtung der Juden in Auschwitz zum zentralen Narrativ seiner Veröffentlichungen gemacht habe. Einen Grund für diese Veränderung, die 1961 in dem faktischen Ausschluss Langbeins aus dem IAK mündete, sieht Stengel in der Freundschaft, die sich im Laufe der 1950er-Jahre zwischen Langbein und Hans Günther Adler entwickelte.

Diskutiert wurden im Anschluss vor allem die in den Vorträgen vorgestellten Methoden der Forschung: So wurden einerseits die von den Kommissionen entwickelten Fragebögen erörtert sowie Langbeins Methode der Montage unterschiedlicher Quellen. Zudem wurde die Bedeutung von Täterquellen für die jeweiligen Forschungs- und Dokumentationsbemühungen diskutiert.

Im letzten Panel wurde der aus Polen stammende Forscher Joseph Wulf in zwei Vorträgen näher vorgestellt. Klaus Kempter konzentrierte sich nach einer kurzen biografischen Einführung zu Wulf auf dessen publizistisches Wirken in Deutschland seit seiner Emigration nach Berlin im Jahr 1952. Im Gegensatz zu seiner früheren Arbeit in Polen und Frankreich habe sich Wulf nun nicht mehr auf die jüdischen Opfer, sondern auf die Tätergesellschaft konzentriert. Noch in den 1950er-Jahren veröffentlichte er gemeinsam mit Léon Poliakov drei Werke zur Geschichte des Nationalsozialismus, die eine gewisse Öffentlichkeit erreichen konnten. Dabei sei vor allem Wulf sehr bewusst gewesen, dass seine eigene Verfolgungsgeschichte – er war Häftling in Auschwitz - die Rezeption der Bücher in Deutschland negativ beeinflussen könnte. Daher habe seine Arbeit hauptsächlich in der Editierung deutscher Quellen zum Nationalsozialismus bestanden. Kempter durchbrach mit seinen Ausführungen das Bild Wulfs als einer durchgehend tragischen Figur und zeigte, welche Erfolge Wulf in den 1950er und 1960er-Jahren erzielen konnte.

Mit einem Aspekt des Scheiterns im Leben Joseph Wulfs beschäftigte sich im letzten Vortrag des Workshops GERD KÜHLING (Jena). Er schilderte in seinem Beitrag Wulfs Bemühen in den 1960er-Jahren, in der Villa am Großen Wannsee, Tagungsort der Wannseekonferenz im Januar 1942, ein „Internationales Dokumentationszentrum zur Erforschung des Nationalsozialismus und seiner Folgeerscheinungen“ einzurichten. Wulf habe vorgeschwebt, in diesem historischen Gebäude einen Ort für Forschung und Erinnerung zu etablieren. Doch sein Vorhaben scheiterte. Der Berliner Senat war nicht bereit, das Erholungsheim für Neuköllner Kinder, das sich damals in der Villa befand, an einen anderen Ort zu verlegen. Hinzu kam, dass Wulf trotz prominenter Unterstützung aus dem In- und Ausland von deutschen Wissenschaftlern angegriffen wurde, besonders von Martin Broszat am Institut für Zeitgeschichte in München. In den Angriffen gegen Wulf sei es vor allem um seine fehlende akademische Ausbildung gegangen; seine zahlreichen Veröffentlichungen zum Nationalsozialismus wurden dabei ignoriert oder herabgewürdigt. 1967 beschloss der Senat, das ehemalige Haus der Wannseekonferenz nicht für ein Dokumentationszentrum zur Verfügung zu stellen. Nach weiteren erfolglosen Versuchen trat Wulf 1970 als Vorsitzender des Vereins „Internationales Dokumentationszentrum“ zurück. 1992, anlässlich des 50. Jahrestages der Wannseekonferenz, wurde die heutige Gedenk- und Bildungsstätte im Haus der Wannseekonferenz eingeweiht. Joseph Wulf erlebte dies nicht mehr, er hatte sich 1974 in Berlin das Leben genommen.

Im Rahmen dieses Workshops wurde sehr eindrücklich und fachlich überzeugend nachgewiesen, dass es von jüdischer Seite bereits ab 1943/44 die ersten Versuche gegeben hat, die Verbrechen des Holocaust, aber auch die Zerstörung der jüdischen Kultur in Europa zu dokumentieren. Die Forscher bargen, sammelten, archivierten und publizierten Dokumente und Berichte zur Shoah.

Mit diesem Workshop wurde ein weiterer wichtiger Beitrag dazu geleistet, den Mythos zu widerlegen, die Überlebenden hätten bis in die 1960er-Jahre über ihre Erfahrungen geschwiegen. Ein Kernpunkt der Beiträge und Diskussionen war die Frage nach dem Spannungsfeld der Identität, der Selbst- und Fremdwahrnehmung der Forscher. Deutlich wurde, dass die vorgestellten Forscher sehr unterschiedlich damit umgingen. Während einige ihre eigenen Erlebnisse verschwiegen, sahen sich andere vorrangig als Zeugen der Verbrechen. Sie alle teilen allerdings ein gemeinsames Schicksal: bis auf wenige Ausnahmen erhält ihre Arbeit erst heute die gebührende Anerkennung innerhalb der Geschichtswissenschaft.

Konferenzübersicht:

Opening remarks: Dan Diner (Jerusalem / Leipzig)

Introduction: Klaus Kempter (Leipzig)

Panel 1: From Testimony to History
Chair: Nicolas Berg (Leipzig)

Katrin Stoll (Warschau): Szymon Datner: Witnessing German Extermination Policy in Poland

Franz Hocheneder (Linz): H. G. Adler: Historiographical and Poetic Representation of the Holocaust

Panel 2: From Historical Commissions into Written History
Chair: Klaus Kempter (Leipzig)

Natalia Aleksiun (New York): Philip Friedman: A Precursor of Holocaust Research

Roni Stauber (Tel Aviv): The Constitutional Fifties: First Israeli Studies and Chronicles on the Holocaust

Panel 3: Institutionalizing Historiography
Chair: Elisabeth Gallas (Leipzig)

Laura Jockusch (Beer Sheva): At First Glance: Early Jewish Holocaust Research in France and Germany

Katharina Stengel (Frankfurt/Main): Hermann Langbein: Vom Auschwitz-Komitee zur Geschichtsschreibung

Panel 4: Joseph Wulf in Germany
Chair: Sebastian Voigt (Leipzig)

Klaus Kempter (Leipzig): Facing the Public: Joseph Wulf in the Federal Republic

Gerd Kühling (Jena): Against the Current: Joseph Wulf and the Reluctance of the Academic Establishment

Anmerkung:
1 Nicolas Berg, Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung, Göttingen 2003.


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